Einfach ein totes Mädchen???
„Das ist nicht einfach nur ein totes Mädchen“
London – Ella Kissi-Debrah war neun, als sie starb. Offiziell an den Folgen ihres Asthmas. Ihre Eltern wollen nun, dass in Ellas Totenschein „Luftverschmutzung“ als Todesursache aufgenommen wird. Das wäre ein Novum.
„Ich würde mich als Anwalt nicht auf einen Prozess um den Totenschein einlassen, sondern gleich auf den Schadensersatz klagen.“
Wenn die Anwältin Jocelyn Cockburn über ihren aktuellen Fall spricht, dann kann sie dabei nicht ganz neutral bleiben. Schon deshalb nicht, weil sie selbst an der Krankheit leidet, an der auch das Mädchen gelitten hatte, dessen Eltern sie jetzt vertritt. Das Mädchen hieß Ella Kissi-Debrah. Es ist gestorben, mit gerade mal neun Jahren.
An den Folgen ihrer Asthmaerkrankung, so steht es in ihrem Totenschein. An der Luftverschmutzung in ihrer Heimatstadt, davon sind ihre Eltern und die Anwältin überzeugt. „Ich lebe seit 20 Jahren in London“, sagt Jocelyn Cockburn, die auch Asthmatikerin ist, „und die Luftverschmutzung hier beeinträchtigt meine Atmung enorm.“
London zählt zu den Metropolen, in denen die Stickoxidwerte seit Jahren die EU-Grenzwerte überschreiten, die seit dem Jahr 2010 gelten. Und zwar enorm überschreiten. In der viel befahrenen Hauptstraße Brixton Road im südlichen Stadtteil Lambeth etwa übertrafen die Werte am 5. Januar 2017 schon die Höchstgrenze für das gesamte Jahr.
An einer ähnlich stark befahrenen Straße im angrenzenden Stadtteil Southwark lebte Ella Kissi-Debrah. Ella litt an Asthma, wie viele Kinder, sie lebte gut damit, bis sie sechs Jahre alt war. Im Herbst 2010 verschlechterte sich ihr Zustand drastisch. Ellas Asthmaanfälle wurden häufiger und stärker. Am 15. Februar 2013 wurde ein Anfall so stark, dass Ella ihn nicht überlebte.
Ihre Eltern machte das verzweifelt und ratlos, sagt deren Anwältin Jocelyn Cockburn heute. Sie konnten sich nicht erklären, was die Gesundheit ihrer Tochter plötzlich so stark beeinträchtigt hatte, dass sie an ihrem Asthma starb. Im September 2015 hörte Rosamund Kissi-Debrah, Ellas Mutter, vom VW-Dieselskandal. Die Nachrichten brachten sie auf den Gedanken, dass ihre Tochter womöglich an der verschmutzten Luft rund um ihr Zuhause gestorben sein könnte. Die Mutter wandte sich an die Anwältin. „Zu dem Zeitpunkt, an dem sie mich kontaktierte, war Ellas Mutter wie im Wahn“, sagt Jocelyn Cockburn heute, „sie wollte unbedingt wissen, was den Tod ihres Kindes ausgelöst hatte.“
Die offizielle Antwort auf diese Frage steht im Totenschein, den das Gesundheitsamt nach der Untersuchung von Ellas Leiche ausgestellt hat. Sie lautet: Akute Ateminsuffizienz und schweres Asthma. Es habe keine Möglichkeit gegeben, Ella in ihrem Zustand noch am Leben zu erhalten, steht darin weiter.
Eine Diagnose, die Mutter Rosamund Kissi-Debrah nicht akzeptieren will. Ebenso wenig wie ihre Anwältin Jocelyn Cockburn. Die Anwältin will erreichen, dass die Behörden Ellas Fall erneut untersuchen. Das Ziel von Ellas Eltern ist es, die offizielle Todesursache im Totenschein ihrer Tochter um ein Wort zu ergänzen: „Luftverschmutzung“.
„Ein trauriges Beispiel für die Versäumnisse des Staates“
Jocelyn Cockburn beruft sich in ihrer Klage auf Artikel zwei der Europäischen Menschenrechtskonvention: das Recht auf Leben. „Wo die Gesundheit eines Menschen so beeinträchtigt ist, dass er in Todesgefahr gerät, hat der Staat eine Pflicht, das Leben dieses Menschen zu schützen“, sagt sie. Sie glaube, dass ihre Mandanten vor Gericht gute Chancen haben. Zumindest, was die angestrebte zweite Untersuchung angeht. „Das ist nicht einfach nur ein totes Mädchen. Sondern ein trauriges Beispiel dafür, was unsere Regierung seit Jahren falsch macht.“
Luftverschmutzung sehe man in Großbritannien als eine unvermeidbare Tatsache an, nicht einmal relevant genug für eine öffentliche Diskussion, sagt Cockburn. Offiziellen Schätzungen zufolge liegt die Zahl der frühzeitigen Todesfälle, die durch Luftverschmutzung verursacht werden, im Vereinigten Königreich bei etwa 40.000 im Jahr. Laut Umweltbundesamt (UBA) löste die Feinstaubbelastung von 2007 bis 2015 im Mittel etwa 41.900 vorzeitige Todesfälle aus. „Verpestete Luft erhöht statistisch die Todesfallzahl. Das ist eine allgemein anerkannte Tatsache. Wie kann es uns dann überraschen, dass sie auch den Tod eines Kindes verursachen kann? Das ist doch eine logische Folge“, sagt Jocelyn Cockburn.
Das ist eine Rechnung, die für den Umweltmediziner Wolfgang Straff vom UBA so nicht aufgeht. Er warnt davor, Statistiken auf Einzelschicksale zu übertragen. So wie es die Anwältin im Fall Ella Kissi-Debrah in ihrer Klage versucht. „Das alles ist lediglich statistisch nachgewiesen. Es gibt keinen einzigen Menschen, für den individuell eine Aussage über den konkreten Zusammenhang möglich wäre.“ Es verhalte sich ähnlich wie mit dem Rauchen: Dass Raucher im allgemeinen früher sterben als Nichtraucher, sei statistisch bewiesen. „Wir werden aber nie den einen Menschen finden, der mit der Zigarette im Mund gestorben ist. Und selbst das wäre kein Indiz dafür, dass der Tod ursächlich auf die Zigarette zurückzuführen ist.“
Jocelyn Cockburn versucht trotzdem, den Tod der damals neunjährigen Ella auf die verseuchte Luft an ihrer Straße zurückzuführen. Bei einem renommierten britischen Asthmaexperten hat sie eine Untersuchung in Auftrag gegeben, die sie und ihre Mandanten nun vor Gericht als Beweis verwenden wollen. Den Bericht des Mediziners will Cockburn noch nicht öffentlich machen. Der Experte, sagt sie, habe darin aber zweifelsfrei konstatiert: Zwischen Ellas Tod und der belasteten Luft, die das Mädchen jahrelang einatmete, gebe es einen kausalen Zusammenhang.
Unbestritten ist: Mit Feinstaub und Stickoxiden belastete Luft wirkt sich negativ auf die Gesundheit aus. Die darin enthaltenen Partikel benetzen die Lungenoberfläche und können Entzündungen auslösen. Der Körper schüttet Zytokine aus, Entzündungsbotenstoffe. Die versetzen den gesamten Organismus in eine Art Alarmbereitschaft.
Atmet ein Mensch permanent belastete Luft ein, kann das auch das Risiko von Herz-Kreislauf-Erkrankungen erhöhen. Eine latente Entzündung, ausgelöst in der Lunge, kann Arteriosklerose begünstigen, eine Verkalkung der Blutgefäße. Die Herzkrankzgefäße werden enger, es kann schneller zu einem Herzinfarkt oder einem Schlaganfall kommen.
„Es gibt sogar statistisch nachgewiesene Zusammenhänge zwischen Luftverschmutzung und Diabetes, obwohl bei dieser Erkrankung die Lunge eigentlich gar keine Rolle spielt“, erklärt Umweltmediziner Wolfgang Straff. „Ganz offenbar belastet dreckige Luft den gesamten Körper.“
Auch wenn man die gefährliche Wirkung verschmutzter Luft nicht für den Fall eines einzelnen Kindes nachweisen könne – für die gesamte Gesellschaft sei der enorme Schaden längst belegt. „Die Erkenntnisse aus Statistik und Toxikologie sind stark genug. Ihr Gewicht ist so erdrückend, dass man sagen muss: Verschmutzte Luft ist für die Gesellschaft als Ganzes gesundheitsschädlich.“
Änderung im Totenschein wäre Symbolurteil
Doch wieso ist dieser Schaden dann nicht für den Tod von Ella Kissi-Debrah relevant? „Medizinischer Grund für den Tod ist nicht die Luftverschmutzung in der Umgebung, sondern die Grunderkrankung eines Menschen“, sagt Straff. Aber natürlich wirkten schädliche Umwelteinflüsse auf alle Menschen. Und besonders auf solche, die schon an einer chronischen Krankheit leiden. Kinder, erklärt Straff weiter, seien wegen ihrer geringeren Körpergröße sowieso besonders gefährdet. „Je näher man an der Quelle des Schadstoffs dran ist, desto mehr kriegt man davon ab.“ Die Quelle liegt auf Höhe der Autoauspuffe.
Was könnte mit dem Verkehr in London geschehen, wenn Jocelyn Cockburn dennoch den Fall gewinnen und in Ella Kissi-Debrahs Totenschein das Wort „Luftverschmutzung“ aufgenommen würde? „So wie ich es verstehe, hat das Urteil für die Eltern einen hohen symbolischen Wert. Rechtliche Konsequenzen ergeben sich meines Erachtens daraus aber nicht“, sagt der Jurist Remo Klinger, Experte für Umwelt- und Verwaltungsrecht. Klinger lehrt an der Hochschule für nachhaltige Entwicklung Eberswalde und vertritt auch die Deutsche Umwelthilfe vor Gericht.
An der Stelle seiner britischen Kollegin Jocelyn Cockburn wäre Klinger anders vorgegangen, sagt er. „Ich würde mich als Anwalt nicht auf einen Prozess um den Totenschein einlassen, sondern gleich auf den Schadensersatz klagen.“ Das sei zumindest in Deutschland der erfolgversprechendere Weg. „Ich denke, dass sich an der auch in Deutschland in vielen Großstädten schlechter Luft nur dann etwas ändert, wenn die Behörden gezwungen werden, die Luft zu verbessern.“ Der bloße Vermerk der Todesursache auf dem Totenschein habe für die politisch Verantwortlichen schließlich erst einmal keine Konsequenzen.
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Ausgabe vom 9. August 2018
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