Infarkt nach Lungenentzündung
Nach der Lungenentzündung droht der Infarkt.
Die Lungenentzündung ist eine unterschätzte Krankheit. Dabei verursacht keine andere Infektionskrankheit weltweit so viele Todesfälle. Selbst kerngesunde Menschen können plötzlich daran erkranken und sterben.
Nach einer überstandenen Lungenentzündung sollte das Herz-Kreislauf-System unter strenger Beobachtung bleiben. Denn sie wirkt offenbar wie ein Brandbeschleuniger für Arteriosklerose.
Quelle: Die Welt, von Norbert Lossau
Auf obigem Röntgenbild einer 62-jährigen Frau erkennt der Experte eine beidseitige Lungenentzündung
Professor Norbert Suttorp erklärt, wer ein erhöhtes Risiko für eine Lungenentzündung besitzt und wer sich unbedingt impfen lassen sollte.
WELT: Wie viele Menschen sterben an einer Lungenentzündung?
Norbert Suttorp: In Deutschland circa 45.000 pro Jahr. Wir unterscheiden zwischen Lungenentzündungen, die man außerhalb, also ambulant, oder in einem Krankenhaus erworben hat. In den letzten Jahren erkrankten hierzulande jährlich rund 750.000 Menschen an einer ambulant erworbenen Lungenentzündung. Von ihnen mussten 290.000 Patienten in einem Krankenhaus behandelt werden. 30.000 starben dann an der Infektion, also mehr als zehn Prozent. Zum anderen infizieren sich hierzulande jährlich bis zu 50.000 Patienten während eines Krankenhausaufenthalts. Bei ihnen liegt die Sterblichkeit sogar bei rund 25 Prozent.
WELT: Warum ist die Sterblichkeit bei einer im Krankenhaus erworbenen Lungenentzündung so hoch?
Suttorp: In der Regel treten Lungenentzündungen im Krankenhaus nach großen Operationen auf oder weil Patienten beatmet werden müssen. Die Betroffenen haben häufig schwere Grunderkrankungen. Zudem gibt es im Krankenhaus andere, schwieriger zu behandelnde Erregertypen.
WELT: Welche Erreger verursachen Lungenentzündungen?
Suttorp: Ursache einer Lungenentzündung sind sowohl Bakterien als auch Viren, vor allem Influenza-Viren. Häufigster Auslöser der ambulant erworbenen Lungenentzündung sind Pneumokokken. Diese Bakterien besiedeln Schleimhäute. Wenn sie es von dort schaffen, in die Lunge zu gelangen, kann dies zur Lungenentzündung führen. Auch Grippeviren können Lungenentzündungen auslösen. Dies passiert am häufigsten erst nach einer kürzlich überstandenen Grippe. Dann kann es plötzlich zu einer Lungenentzündung kommen, weil die Immunabwehr in der Lunge noch so paralysiert ist, dass die Pneumokokken leichtes Spiel haben. Aber auch Mykoplasmen oder Legionellen können Lungenentzündungen verursachen.
WELT: Geschwächte Personen erkranken eher an einer Lungenentzündung?
Suttorp: Ja. Ein geschwächtes Immunsystem – sei es durch Diabetes, durch Kortisontabletten oder bei HIV – erhöht immer das Risiko für Infektionskrankheiten. Doch man muss deutlich sagen, dass auch kerngesunde Menschen plötzlich eine Lungenentzündung bekommen und daran sterben können.
WELT: Was sind weitere Risikofaktoren?
Suttorp: Wichtigster Risikofaktor ist das Alter. Die Wahrscheinlichkeit, zwischen 70 und 80 an einer Lungenentzündung zu erkranken, ist 20-mal höher als bei einem 19-Jährigen. Und zwischen 19 und 91 Lebensjahren liegt sogar ein Faktor 100 vor. Weitere Risikofaktoren, die mit den Lungen selbst zu tun haben, sind eine chronisch obstruktive Lungenerkrankung, zum Beispiel eine Raucherlunge, aber auch Asthma, vernarbtes Lungengewebe oder deformierte Bronchien. Auch das Inhalieren kortisonhaltiger Medikamente kann die lokale Immunabwehr in der Lunge schwächen.
WELT: Begünstigen hohe Feinstaubbelastungen das Entstehen einer Lungenentzündung?
Suttorp: Ja, das ist durch Studien belegt. Und die Sterblichkeit nimmt dabei ebenfalls zu.
WELT: Gibt es eine genetische Komponente?
Suttorp: Ja, das betrifft rund zwei Prozent der Bevölkerung. Es gibt genetische Störungen, bei denen Ionenkanäle verändert sind oder die Flimmerhärchen nicht optimal funktionieren. Wir erforschen derzeit die genetischen Aspekte der erhöhten Empfänglichkeit für Lungenentzündung in einem Forschungsprojekt mit 2000 Patienten.
WELT: Gibt es bei Lungenentzündungen geschlechtsspezifische Unterschiede?
Suttorp: Ja, Männer sind etwas häufiger betroffen. Das gilt übrigens für fast alle Infektionskrankheiten.
WELT: Wie viele Erregertypen können eine Lungenentzündung verursachen?
Suttorp: Sehr viele, sowohl Bakterien als auch Viren. Die genaue Zahl bringt uns da nicht weiter. Rund 40 Prozent aller außerhalb einer Klinik erworbenen Lungenentzündungen sind auf Pneumokokken zurückzuführen. Die vier häufigsten Erreger für Lungenentzündung – Streptococcus pneumoniae, Haemophilus influenzae, Mycoplasma pneumoniae und das Influenza-Virus – decken zusammen 60 bis 70 Prozent aller Fälle ab. Es kommt vor, wenn auch nur sehr selten, dass eine Lungenentzündung von Tieren übertragen wird.
WELT: Wie wird eine Lungenentzündung ambulant behandelt?
Suttorp: Meistens reicht es aus, Antibiotika zu nehmen, die auf die häufigsten Erreger abgestimmt sind. Nicht einmal jeder Zweite muss ins Krankenhaus. Aber wenn dies doch notwendig wird, dann ist die Wahrscheinlichkeit, daran zu sterben, tatsächlich höher als bei einem Herzinfarkt. Hier gibt es eine ziemlich verzerrte Wahrnehmung von Risiken. Wenn in die Rettungsstelle ein Patient mit akutem Herzinfarkt eingeliefert wird, liegt sein Sterberisiko bei acht Prozent. Bei der Lungenentzündung sind es hingegen mehr als zehn Prozent. Dennoch sagen manche: Ach, ist doch nur eine Lungenentzündung. In gewisser Weise hat also die Lungenentzündung ein „Imageproblem“. Doch keine andere Infektionskrankheit verursacht weltweit so viele Todesfälle.
WELT: Wie werden Patienten mit Lungenentzündung in der Klinik behandelt?
Suttorp: Ebenfalls mit Antibiotika. Die große Herausforderung für den Arzt ist jedoch die Entscheidung, ob ein Betroffener auf eine Normalstation oder in die Intensivstation gebracht wird. Lungenentzündungen haben die unangenehme Eigenschaft, dass es ganz plötzlich zu sprunghaften Verschlechterungen des Allgemeinzustands kommen kann. Wenn das nach Mitternacht auf der Normalstation passiert, wird der Patient nachts um 5 Uhr bei schwerem Sauerstoffmangel bewusstlos im Bett vorgefunden. Er hätte besser auf der Intensivstation sein sollen. Wenn man solche Desaster ausschließen will, muss man bestimmte Biomarker messen. Nur so lassen sich Risikopatienten sicher erkennen. Wir haben gerade im Rahmen eines großen, vom Bundesministerium für Forschung und Bildung finanzierten Projekts einen neuen Biomarker entdeckt. Einfach ist es hingegen, jene Patienten zu identifizieren, die man gefahrlos nach Hause schicken kann.
WELT: Wie erkennen Sie diese Patienten?
Suttorp: Über ein Punktesystem, das verschiedene Parameter berücksichtigt und in nur zwei Minuten Klarheit schafft. Da wird unter anderem gecheckt, wie fit der Patient im Kopf ist, ob der Blutdruck, die Atemfrequenz sowie die Sauerstoffsättigung im Blut in Ordnung sind und ob der Patient eine koronare Herzerkrankung hat. Und natürlich ist auch das Alter wichtig. Sind alle Parameter unbedenklich, kann der Betreffende aus der Klinik entlassen werden. Bei diesem Schema irrt man sich nur in einem von 1000 Fällen. In den meisten Fällen werden Patienten mit Lungenentzündung fünf bis sieben Tage im Krankenhaus mit Antibiotika versorgt, bevor sie nach Hause dürfen.
WELT: Wenn ein Patient trotz Einnahme von Antibiotika und klinischer Betreuung stirbt, dann hat das welchen Grund?
Suttorp: Zum einen fragen Sie damit nach der Wirksamkeit von Antibiotika. Natürlich darf heute aus ethischen Gründen nicht erforscht werden, wie hoch die Sterblichkeit mit und ohne Gabe von Antibiotika ist. In den 1930er-Jahren hat man es zu Recht getan, weil damals Antibiotika neu verfügbar wurden. Man fand, dass sieben von zehn Patienten auch ohne Antibiotika eine Lungenentzündung überleben. Setzt man sie aber ein, überleben neun von zehn die Erkrankung. Antibiotika haben also die Letalität um 20 absolute Prozentpunkte gesenkt. Das ist in der Medizin der bisher höchste je erreichte Effekt. Nur in einem von zehn Fällen führt die Lungenentzündung zum Lungenversagen oder zu einer tödlich verlaufenden Sepsis.
WELT: Geht eine Lungenentzündung immer auch mit Fieber einher?
Suttorp: Eben nicht. Das ist stark vom Alter abhängig. Patienten unter 40 haben in neun von zehn Fällen sehr hohes Fieber, oft mit Schüttelfrostanfällen. Mit dem Alter nimmt die Neigung zu Fieber stetig ab. Zwanzig Prozent der 80-jährigen Patienten zeigen überhaupt kein Fieber. Bei einem älteren Patienten aus der Abwesenheit von Fieber zu folgern, der Betreffende habe keine Lungenentzündung, wäre sehr fahrlässig.
WELT: Was sind erste Symptome, an denen ein Laie erkennt, dass er möglicherweise eine Lungenentzündung hat?
Suttorp: Es ist mehr als nur Husten, Schnupfen, Heiserkeit. Das Atmen fällt deutlich schwerer, und es kann zu verfärbtem Auswurf kommen. In jedem Fall hat der Betreffende ein sehr schweres Krankheitsgefühl, das sich deutlich von dem unterscheidet, was man vielleicht ein- bis zweimal pro Jahr als Infekt gewohnt ist. Spätestens nach ein bis zwei Tagen geht man zum Arzt.
WELT: Spürt man auch Schmerzen?
Suttorp: Die Lunge selber schmerzt nicht. Nur wenn auch das Lungen- oder das Rippenfell betroffen sind, treten Schmerzen beim Atmen auf. Ansonsten hat man eher nur ein dumpfes Gefühl.
WELT: Kann man sich gegen Lungenentzündungen vorsorglich impfen lassen?
Suttorp: Bereits seit 20 Jahren gibt es den Polysaccharid-Impfstoff Pneumovax. Dieser schützt vor 23 der rund 90 Pneumokokken-Typen. Seit dem Jahr 2011 ist zudem der Konjugatimpfstoff Prevenar13 zugelassen, der 13 Serotypen abdeckt. Dennoch ist er wirksamer, weil er ein besseres Immungedächtnis stimuliert. Ich muss an dieser Stelle darauf hinweisen, dass es zwischen der Ständigen Impfkommission (Stiko) am Robert-Koch-Institut und den beiden ärztlichen Fachgesellschaften für Lungenkrankheiten sowie Infektionskrankheiten eine diskrepante Einschätzung gibt. Die Stiko empfiehlt bis heute den alten Impfstoff, die Fachgesellschaften hingegen den neuen. Ich auch.
WELT: Was sind Ihre Einwände gegen den alten Impfstoff?
Suttorp: Er schützt nicht vor Sepsis, induziert keine Gedächtniszellen, und er funktioniert nicht bei Kindern.
WELT: Und warum empfiehlt die Stiko dann diesen Impfstoff?
Suttorp: Vorweg muss man festhalten, dass beide Pneumokokken-Impfstoffe bei Weitem nicht so wirksam sind wie zum Beispiel die Impfstoffe gegen Masern, Polio oder Pocken. Wichtiger als die Diskussion 13 versus 23 Serotypen ist der Umstand, dass sich der oder die Betreffende überhaupt impfen lässt. Doch zu Ihrer Frage: Der Stiko ist es offenbar wichtiger, dass der alte Impfstoff vor 23 statt nur 13 Serotypen schützt.
WELT: Nur 13 von 90 Serotypen klingt in der Tat nach recht wenig Schutz?
Suttorp: Diese 13 Typen wurden natürlich nach ihrer Relevanz und Häufigkeit ausgesucht. Der Impfstoff bietet dann durchaus in 30 bis 35 Prozent der Fälle einen nachhaltigen Schutz, weil ein Immungedächtnis ausgebildet wird. Das ist besser als nichts, aber weit von erwünschten 100 Prozent entfernt. Neue Impfstoffe, die noch mehr Serotypen wirksam berücksichtigen, sind in Arbeit, stehen aber noch nicht vor der Zulassung.
WELT: Welchen Impfstoff verwendet denn der Hausarzt?
Suttorp: Das ist seine freie Entscheidung. Er kann sich an die eine oder andere Empfehlung halten. Letztlich wird die Frage, was bezahlt wird, entscheidend sein.
WELT: Ab welchem Lebensalter empfehlen Sie eine Impfung?
Suttorp: Ab 60. Wer jedoch einer Risikogruppe angehört, der sollte sich unabhängig vom Alter impfen lassen. Ich spreche indes ungern von einer Impfung gegen Lungenentzündung. Denn man ist ja nur vor Pneumokokken geschützt und da auch nicht vor allen. Es ist ein großer Irrtum zu glauben, man könnte nach einer Impfung keine Lungenentzündung mehr bekommen.
WELT: Muss die Impfung nach einer bestimmten Zeit aufgefrischt werden?
Suttorp: Nein, bei dem 13-Serotypen-Impfstoff reicht nach derzeitigem Wissen die Wirksamkeit lebenslang. Wenn allerdings neue Impfstoffe mit einem breiteren Abwehrspektrum verfügbar werden, kann es sinnvoll sein, sich damit erneut impfen zu lassen.
WELT: Kann es nach überstandener Lungenentzündung zu Spätfolgen kommen?
Suttorp: Die gibt es in der Tat, und es war eine große Überraschung für uns, als wir das bei einer großen wissenschaftlichen Studie mit mehr als 12.000 Patienten herausgefunden hatten. Von 100 Todesfällen nach einer ambulant erworbenen Lungenentzündung sterben 50 innerhalb der ersten 30 Tage und die anderen bis zum 180. Tag. Die Todesursachen im letzteren Fall sind überwiegend Vorhofflimmern, Herzinfarkte und Schlaganfälle. Eine Lungenentzündung wirkt offenbar wie ein Brandbeschleuniger für Arteriosklerose. Daraus folgt: Nach einer überstandenen Lungenentzündung sollte das Herz-Kreislauf-System unter strenger Beobachtung bleiben.
WELT: Als Wissenschaftler in einem Sonderforschungsbereich gehen Sie grundlegenden Fragen zu Lungenentzündungen nach. Was wollen Sie herausfinden?
Suttorp: Letztlich geht es immer um die Frage, wie man die seit sieben Jahrzehnten unverändert gebliebene Sterblichkeit der ambulant erworbenen Lungenentzündung von zehn Prozent doch noch verringern könnte. Schließlich geht es hier um jährlich 30.000 Todesfälle – siebenmal mehr, als es Opfer im Straßenverkehr gibt. Wir wollen zum einen das lokale Immunsystem der Lunge besser verstehen. Bislang wissen wir nicht, warum eine Influenza oder ein Schlaganfall das Immunsystem der Lunge wochenlang blockieren kann. Das zu verhindern und die lokale Immunität zu verbessern sind lohnende Forschungsziele. Zum anderen ist es wünschenswert, den Körper in der Reparaturphase bei oder nach einer überstandenen Lungenentzündung gezielt zu unterstützen. Die Lunge sieht da zunächst wie ein Trümmerfeld aus, das sich erst nach vier bis sechs Wochen normalisiert. Das ist eine Risikozeit. Schließlich würden wir sehr gerne auch verstehen, warum Lungenentzündungen so dramatisch die Arteriosklerose fördern. Wenn wir das verhindern könnten, ließen sich viele Leben retten. Dies alles ist Forschungsarbeit für Jahrzehnte.